Trotz alledem: Jungsein! Lebendigsein! Erfahrungen machen!
Yves Bertho‘s Roman über seine Zeit als ziviler Zwangsarbeiter in Bremen
Ein Besprechungsessay

Die französische Originalausgabe des Romans erschien bereits 1976 unter dem Titel Ingrid. In ihm erzählt Yves Bertho seine Erlebnisse als französischer ziviler Zwangsarbeiter in Bremen von Anfang September 1943 bis zum größten Luftangriff der britischen Royal Air Force, der Nacht vom 18. auf den 19. August 1944, in der das alte Bremen und der Bremer Westen untergingen und mehrere tausend Menschen ihr Leben verloren.

Für seinen Roman erhielt der Autor zwei Literaturpreise. Kein geringerer als der Regisseur Jean-Luc Godard erwog ernsthaft eine Verfilmung des Buches. Altbürgermeister Koschnick, dem Bertho seinen Roman geschickt hatte, und seine Gattin versuchten vergeblich, einen Bremer Verlag für die Veröffentlichung zu gewinnen. So dauerte es vierzig Jahre, bis auch das deutschsprachige Publikum dank des Bremer Kellner-Verlags den in inhaltlicher Hinsicht bemerkenswerten Text endlich lesen kann.

Die Herausgeber, Helga Bories-Sawala und Johann-Günther König, deren Aufsätze im Anhang erhellend für die Rezeption des Romans sind, und der Übersetzer Rolf Sawala haben, mit Zustimmung der Tochter Berthos als Rechteinhaberin, für die deutsche Edition einen neuen Titel gewählt, Ich war Pierre, Peter, Pjotr. Für den Autor und sein literarisches Alter Ego Pierre ist Ingrid zweifellos die wichtigste Person des Romans. Aber ihre komplizierte und in der einen oder anderen Hinsicht tendenziell seltsam anmutende Züge tragende Liebesgeschichte bildet lediglich das Nebenthema des Buches. Sein Held und Erzähler ist der erfahrungs- und lebenshungrige junge Pierre, sein Thema ist dessen Arbeiten und Leben als ziviler Zwangsarbeiter in Bremen unter der Bedingung des Krieges.

Die Schilderungen der Erlebnisse und Beobachtungen Pierres sind zum Teil so unglaublich, dass der vorliegende Text vielleicht in der Gefahr steht, eine falsche Botschaft zu transportieren, beispielsweise: “So schlimm war es dann ja gar nicht ...“. Nichts wäre verkehrter. Als Gegengift gegen etwaige Zweideutigkeiten ist die Lektüre des Aufsatzes von Bories-Sawala im Anhang unbedingt zu empfehlen. Darin legt sie dar, dass die Welt der Zwangsarbeit auf der nazistischen, hierarchisch gegliederten Rassentheorie basierte, die ihrerseits das Gesicht der Zwangsarbeit formte, indem sie eine Hierarchie der Nationen hypostasierte und ihnen unterschiedliche Typen der Zwangsarbeit zuordnete: von Vernichtung durch Arbeit über vollständige Entrechtung bis zur Sonderstellung von Holländern, Belgiern und Franzosen, die, wie es im Roman treffend heißt, die „upper class“ der Zwangsarbeit bildeten. Aber trotz ihrer privilegierten Stellung im Universum der Zwangsarbeit schwebte auch über ihnen das Damoklesschwert, jederzeit zum Bau des U-Bootbunkers Valentin in Bremen Farge verdonnert zu werden, sei es anlässlich irgendeines Vergehens oder schlechter Laune eines Vorgesetzten, sei es als Opfer einer der Razzien in den Ausländerlokalen, die für Nachschub beim Bunkerbau sorgten, indem jeder Zehnte verhaftet wurde. Die Arbeit dort überlebten nur die wirklich starken. Dieser Tatbestand sollte bei der Lektüre des Romans (und auch dieses Textes) stets präsent sein. Auch die Zwangsarbeiter der upper class arbeiteten und lebten auf des Messers Schneide.

Tatsächlich war Pierres Lebensstil in Bremen dem Regime der Zwangsarbeit abgetrotzt, zugleich war er nur für Mitglieder von deren upper class möglich. Resonanzboden für die Abenteuer des Protagonisten ist eine sich im Ausnahmezustand und in Auflösung befindende, durch ein Gewaltregime zwangs-integrierte Stadtgesellschaft unter der Bedingung des Krieges. In diesem ganz speziellen Bremen konnte der als Zwangsarbeiter entwurzelte Pierre seinen jugendlichen Erfahrungshunger jenseits von Konventionen und Moral des (nicht nur) französischen Bürgertums, dem seine Familie angehörte, ausleben.


Yves Bertho und sein Alter Ego Pierre war ein zwanzigjähriger Jurastudent, als er zur Zwangsarbeit in Deutschland einberufen wurde. Bei seiner Anreise, die er lediglich mit einem Wörterbuch bewaffnet antrat, traf er im Zug neben Leidensgenossen auch auf Urlaubsrückkehrer. Es ist kaum glaublich: Zum damaligen Zeitpunkt, Anfang September 1943, stand französischen Zwangsarbeitern nach einem Jahr ein dreiwöchiger Heimaturlaub zu, der gestrichen wurde, nachdem 40 Prozent von ihnen die Gelegenheit nutzten, um in die Illegalität oder die Résistance unterzutauchen. In Hannover wurden die Zwangsarbeiter auf die deutschen Städte verteilt, Pierre nach Bremen.

In Bremen angekommen, fand er ein Stadtbild im Krieg vor. Am Himmel Sperrballons und am Boden die chemischen Überreste der künstlichen Vernebelung zur Bomberabwehr, zerstörte, beschädigte und verrußte Häuser. Auf den Straßen keine Kinder, die aufs Land verschickt worden waren, wenige einheimische Männer im wehrfähigen Alter, alte deutsche Arbeiter mit ihren obligatorischen schwarzen Aktentaschen und die vielen Frauen, deren Männer auf Europas Schlachtfeldern für den Sieg der imperialistischen NS-Expansion kämpften und nach anfänglichen Siegen verbluteten.

Auf dem Arbeitsamt verwandelte ein bürokratischer Federstrich den Jurastudenten in einen Schlosser, der den Francke-Werken in der Bremer Neustadt zugeteilt wurde. Dort lernte der Bürgersohn die für ihn neue Welt der physischen Arbeit und der multinationalen Arbeiterschaft kennen.

Am Arbeitsamt wurde Pierre von dem ebenfalls zwanzigjährigen Robert abgeholt, der in dem Unternehmen in der Granatenproduktion arbeitete. Letzterer, Sohn eines bretonischen Fischers, hatte bei einem Aufenthalt bei einem Cuxhavener Berufskollegen seines Vaters die deutsche Sprache erlernt. Zwischen beiden entwickelte sich eine eigenartige Freundschaft. Durch Robert, ein schweigsamer und undurchsichtiger junger Mann, lernte Pierre alle wichtigen Personen des Romans jenseits der Zwangsarbeit kennen.

In den Francke-Werken, die neben der Granatenproduktion vor allem Flugzeugmotoren wartete und reparierte, wurde Pierre Willy, ein über siebzigjähriger Schlosser, der die maroden Rohrleitungen reparierte, zugeteilt. In dem Unternehmen arbeiteten Zwangsarbeiter aus den von Deutschland besetzten Ländern. Je östlicher ihr Heimatland lag, desto entrechteter ihr Status. Ganz unten in der Hierarchie und am verhasstesten bei den Deutschen die Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, Polen und, nach der bedingungslosen Kapitulation nach dem Sturz des faschistischen Mussolini-Regimes, Italien, die schon äußerlich mit ihrer sichtbaren Kennzeichnung auf der Kleidung mit „OST“, „P“ und „I“ als Bürger dieser Staaten gebrandmarkt waren.

Als im September 1943 die ersten „Badoglio Italiener“ ins Werk kamen, brach sich der unbändige Hass Willys Bahn, indem er den ihm zugeteilten italienischen Zwangsarbeiter umbringen wollte, weil er ihn persönlich für den Verlust seines in der Sowjetunion gefallenen Sohnes haftbar machte, was Pierre im letzten Augenblick verhindern konnte. Ausgerechnet dieser Willy, der das Parteiabzeichen am Revers trug, also offen als Anhänger des nach Innen wie nach Außen verbrecherischen und imperialistischen NS-Regimes sich bekannte, prüfte akribisch die Korrektheit der Lohnabrechnungen „seines“ Pierres, der übrigens den ortsüblichen Lohn erhielt. Begreife einer die Deutschen, ihre Rechtschaffenheit in alltäglichen Dingen und ihre Verblendung und beispiellose Inhumanität in gesamtgesellschaftlichen, politischen Angelegenheiten, wenn letztere von ihnen in völkischen Kategorien gedeutet werden.

Der jugendlich unerfahrene Pierre dagegen durchschaut das vergiftete Ansinnen des Personalchefs von der DAF, ihn wegen seiner Deutschkenntnisse zum „Vertrauensmann“ zu ernennen, als Angebot zur Kollaboration. In einem langen Gespräch gelingt es ihm geschickt, es ohne Sanktionen zu erleiden abzulehnen. Seine wahre Einstellung zum nazistischen Rassenwahn erhellt der von ihm beobachtete und in seinen Facetten von Scheu, Vorsicht und Anziehung mit Sympathie geschilderte Flirt zwischen einem polnischen Zwangsarbeiter und einer jungen bremischen Eisverkäuferin vor dem Werkstor, die unter Gefahr von Leib und Leben am Ende verstohlen Händchen halten.

Die 160 holländischen, belgischen und französischen Zwangsarbeiter der Francke-Werke wohnten in zehn Baracken für jeweils 16 Personen auf dem Werksgelände, die übrigens von jungen ukrainischen Zwangsarbeiterinnen gereinigt wurden. Anwesend mussten sie lediglich zu den Arbeitszeiten sein. Mit Ausnahme des Sperrgebiets Hafen war ihnen die Stadt frei zugänglich.

Auf dieser Folie machte sich Pierre auf, Bremen zu erobern, das sein Alter Ego Bertho in einem Brief an Hans Koschnick 1977 retrospektiv „… als meine Stadt betrachtete, da ich hier lebte“. Als passionierter, auch nächtlicher Spaziergänger und Flaneur erkundete er sie per pedes und mit der, von Holländern gefahrenen Straßenbahn, immer wieder unterbrochen von Aufenthalten in Luftschutzbunkern. Dabei verliebte er sich in den für ihn schönsten europäischen Marktplatz mit dem eingemauerten Roland und die Altstadt. Und dort genoss er das Bild des sonntäglichen Gedrängels auf den Einkaufsstraßen, wenn neben der autochthonen Bevölkerung auch die Zwangsarbeiter/innen aus den besetzten Ländern durch die Gassen flanierten. Entsprechend seines bürgerlichen Habitus und dank seines ortsüblichen Lohns mit dem nötigen Geld ausgestattet, führten ihn seine Streifzüge auch zu den von ihm genutzten bürgerlichen kulturellen Angeboten Bremens wie Theater, Oper, Konzert, besuchte er die verschiedensten Lokalitäten und war ein begeisterter Kinogänger.

Als Zwangsarbeiter lernte er darüber hinaus eine andere, für ihn neue Kultur kennen und schätzen, das Universum der plebejischen Kultur der Subalternen aus den besetzten Ländern Europas. Für diejenigen unter ihnen, die sich in Bremen frei bewegen konnten, gab es auch eine nächtliche Subkultur. Ihr Schauplatz waren von Zwangsarbeitern frequentierte Gaststätten mit Kapellen vor allem in der Altstadt, in denen sie zusammen mit sexuell frustrierten deutschen Frauen ihre rauschenden Feste feierten. Die größte Kneipe mit Tanzsaal, die auch als Nachrichtenbörse und Schwarzmarktzentrale fungierte, befand sich im Stadtteil Sebaldsbrück, direkt daneben das Ausländerbordell, betrieben mit Zwangsprostituierten. Zur Sommerfrische trafen sich die Zwangsarbeiter an der Ochtum. Dort sonnten sie sich am Reedeich, schwammen in der Ochtum, fuhren mit Booten auf ihr, besuchten das heute noch existierende Lokal „Storchennnest“.


Seine Freunde lernte Pierre durch Robert kennen, die eine Art Hass-Freundschaft verband. Robert war auch gegenüber Pierre schweigsam und undurchsichtig, gleichwohl machte er ihn mit seinen Freunden bekannt.

Die wichtigste Person war Ingrid, eine 40-jährige Offiziersgattin, die im vornehmen Parkviertel (heute Schwachhausen) ein Haus besaß. Pierre besuchte sie fast täglich nach der Arbeit. Zwischen ihnen entwickelte sich eine komplizierte platonische Liebe.

Die zweitwichtigste Person war Madame Blanche, eine ebenfalls 40-jährige französische Zwangsarbeiterin, die in einer Seifenfabrik im Stadtteil Sebaldsbrück arbeitete. Sie war eine Lebedame, Schwarzmarktgröße und Währungsspekulantin. Sie machte Pierre, der ihr Kunde war und ihr zuweilen bei ihren Geschäften half, zu einem ihrer Liebhaber, hätte ihn aber gerne an eine junge Frau verkuppelt.

Wichtig für Pierre war weiter Theo, ein holländischer Zwangsarbeiter, der ein Zimmer in Ingrids Haus bewohnte. Er, Ökonom und Sozialdemokrat mit Regierungserfahrung als Staatssekretär, arbeitete bei den Atlas-Werken. Als Päderast und Politiker war er doppelt gefährdet und wurde überwacht. Mit ihm führte Pierre politische Gespräche und debattierte über die Kriegslage.

Dann waren da noch drei 17 Jahre alte junge Frauen, die „BDM-Mädchen“, wie Robert sie bezeichnete, der sie am Reedeich kennengelernt hatte, Else, Erika und Renate. Sie versuchten verzweifelt, erste erotische Erfahrungen zu sammeln, konnten es aber nicht auf „normalem Weg“. Weil die männlichen deutschen Jugendlichen im Krieg verbluteten, suchten sie die Nähe junger ausländischer Zwangsarbeiter.

Eine von ihnen spielte bei einer makabren Episode eine Rolle. Nach einer Schlägerei zwischen Robert und Pierre stellten beide bestürzt fest, dass ihre Kleidung verschmutzt und zerfetzt war. Da auch unter den Zwangsarbeitern Kleider Leute machten, standen sie vor dem Problem , neue zu erwerben. Im Handel gab es sie aber nicht mehr, auf dem Schwarzmarkt kosteten sie ein Vermögen. Zum Glück kannte Robert die drei BDM-Mädchen, von denen eines, Else, in der Reinigung Büsing in der Sögestraße arbeitete. Else besaß einen Schlüssel für die Reinigung und lud nachts leichtsinnig fremde Männer ein, mit ihr in das Geschäft zu gehen, um mit ihnen im Lager der gereinigten Kleidung pubertäre Spiele zu veranstalten. Die gereinigte Kleidung war nach Datum sortiert, ganz hinten im Raum die nie abgeholte von gefallenen Soldaten. Daran erinnerte sich Robert. Das war die Lösung ihres Problems.


Berto schildert eindrucksvoll die wechselnden Stimmungslagen unter den Deutschen: ihr unbändiger Hass auf die italienischen Badoglio-Zwangsarbeiter, ihr trotziges Schweigen nach dem Fall Stalingrads, ihr verrückt-verzweifelter Jubel nach der Invasion in der Normandie und ihr dumpfes Schweigen nach dem Hitler-Attentat, die versteinerte und stumme Trauer der Angehörigen von Gefallenen. Von Widerstand in der Bevölkerung findet sich im Roman keine Spur. Auf dieser Folie führt Theo in einem Gespräch mit Pierre aus, dass das NS-Regime Deutschland buchstäblich bis zur letzten Patrone und zum letzten Mann in den Untergang führen werde.

Die bewegendste Episode erlebte Pierre in der Gaststätte „Zu den Sieben Faulen“, in die er sich gern zum Schreiben zurückzog. Sie wurde häufig von Soldaten im Fronturlaub mit ihren Bräuten oder jungen Gattinnen besucht. Die Paare verbreiteten eine tiefe, mit Händen greifbare Melancholie im Lokal, über ihnen schwebte das Gespenst des Todes. Nachdem das Kriegsglück sich seit Stalingrad gewendet hatte, waren die Soldaten Tote auf Urlaub. Und die Liebenden wussten das.


Der Roman kulminiert im letzten Kapitel, Die Stunde schlägt, in der Darstellung des britischen Bomberangriffs auf Bremen in der Nacht des 18.-19. August 1944, die Pierre bei Ingrid verbrachte. Wie so oft waren sie beim Alarm nicht in einen der Luftschutzkeller gegangen, sondern in ihrem Haus geblieben. Obwohl der Angriff sich auf die Altstadt und den Bremer Westen konzentrierte, fielen auch auf das Parkviertel Bomben. Bei einer von ihnen erbebte ihr Haus in den Grundfesten, wurden die Fenster aus ihren Fassungen gerissen, flog die Einrichtung im Zimmer herum, schleuderte Pierre zusammen mit der Tür ins Treppenhaus, verletzten sich beide und standen Todesängste aus. Im Roman deutet Bertho dezent an. dass es im Angesicht des Todes zur Vereinigung der beiden gekommen zu sein scheint.

Als Pierre am Morgen zu den Francke-Werken ging, bot sich ihm ein Bild der Zerstörung dar. Altstadt und Bremer Westen waren bis auf wenige Reste in eine Trümmerwüste verwandelt worden,1 die ausgebombten Überlebenden sammelten sich in den Wallanlagen vor der Ostertorwache, in der Neustadt brannten die Ruinen noch. Pierre hatte nur noch einen Wunsch: „Er wollte laufen, nur laufen, leben, rennen. Frei sein und lebendig.“

Damit endet der Roman. Yves Bertho arbeitete noch bis zum 24. April 1945 bei den Francke-Werken, dem Beginn der Besetzung Bremens durch britische Truppen. Wenige Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Stadt am 27. April 1945 kehrte er als freier Bürger nach Frankreich zurück. Leider hat Bertho über den Zeitraum vom großen Luftangriff bis zu seiner Befreiung nichts publiziert.


Yves Bertho‘s Roman ist keine leichte Lektüre. Der sperrige Charakter des Textes liegt zum einen an seinem Thema, zum anderen an literarischen Defiziten und drittens einer partiellen Überfrachtung. Was letztere betrifft, stellt sich die Frage, ob seine Auseinandersetzung mit seinen Eltern tatsächlich so wichtig für das Thema ist, wie der Autor anzunehmen scheint. Nach meiner Ansicht hätte seine Kritik der politischen Einstellung seiner Eltern (stellvertretend für das französische Bürgertum) zur Volksfront und zum Kollaborations-Regime Pétain genügt, wirft sie doch ein Licht auf seine eigene politische Haltung. Bertho war weder ein politischer Naivling noch ein Widerständler. Er war ein wacher politischer Beobachter, dem klar war, zu welchem politischen Ergebnis die bürgerliche Kritik an der Volksfront-Regierung führen musste. Im Interesse einer schlankeren Darstellungsökonomie wäre es weiter ratsam gewesen, das Thema Ingrid kürzer abzuhandeln. Aber Ingrid war nun einmal die wichtigste Begegnung des Autors in Bremen. Gleichwohl packt er einfach zu viel in seinen Roman hinein. Zusätzlich erschwert wird die Lektüre durch die Stilbrüche. So ist der Roman teilweise in einer umständlichen Sprache geschrieben, die von literarischen Passagen und Abschnitten und einigen expressionistisch inspirierten Bildern abgelöst werden.

Die vorstehende Kritik verblasst vor dem Kernthema des Romans, das Porträt der Stadt Bremen in den Jahren 1943/44 und der sozialen Welt der Zwangsarbeiter in den Erlebnissen Pierres lebendig zu machen. Bei aller Sperrigkeit der Darstellung und damit auch der Lektüre gelingt Bertho dies eindrucksvoll. Der eigensinnige, erfahrungs- und lebenshungrige junge Yves Bertho alias Pierre wurde in Bremen zum einen vom Studenten zum Arbeiter und zum anderen zu einem Grenzgänger zwischen bürgerlicher Hochkultur in ihrer französischen Gestalt und den nationalen plebejischen Kulturen der europäischen Unterklassen. Seine Fremdheit in Nazideutschland schärfte seine Wahrnehmung. Er lässt seine Erlebnisse und Schilderungen für sich sprechen, ein Urteil über sie muss die Leserschaft selbst fällen. Seine hellwachen, genauen und sensiblen Beobachtungen und Schilderungen, gepaart mit der Askese gegenüber Werturteilen und Moralisieren, machen die zentralen Stärken seines Romans aus. Diese Qualitäten dürften Godard gereizt haben, den Roman zu verfilmen. Leider ist der Film nicht gedreht worden.


Yves Bertho: Ich war Pierre, Peter, Pjotr. Aus dem Französischen von Rolf Sawala. Herausgegeben von Helga Bones-Sawala, Johann-Günther König. Kellner Verlag. Bremen/Boston 2016. 519 Seiten. EUR 18,90.

Volker Stork
12.10.2016


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