Flut und Boden -
oder the making of a Nazienkel

Flut und Boden der Titel ist natürlich ein Kalauer, Blut und Boden ein gängiger Begriff
der Nazi-Ideologie, die Flut, obwohl in Bremen real vorhanden, kann natürlich in vielen
möglichen Bildern verstanden werden.

Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert wird immer noch vom sogenannten 3.Reich
bestimmt, selbst nach 70 Jahren werden Nazi-Familiengeschichten ausgegraben und zu Bestsellern.
Beispiel ist der Spiegeltitel vor 2 Wochen mit dem Bericht über einen Mörder in den letzten
Kriegstagen, eine Bremer Familiengeschichte, die der Sohn Cord Schnibben wieder erzählt hat.

Das Buch von Per Leo nennt sich Roman einer Familie, ist aber wohl eher ein Essay,
ein Versuch mit Montagen, Näherungen zum (der Nazi) Großvater herzustellen. Dieser war SS-Offizier im Rasse- und Siedlungs-Hauptamt, zuständig für Rassegutachten. Das Gegenstück war der Großonkel, ein anständiger Mensch, der von den Nazis sterilisiert wird, der später als Techniker und Anthroposoph in der DDR lebt.
Vom Aktenstudium, vom Studium in Freiburg bei dem berühmten Professor Herbert, von Therapiegesprächen im Psychsozialen Notdienst wird berichtet und die Figur "Nazienkel" reflektiert.

Eine Stärke des Buches liegt darin, diese Lebensgeschichte, die sehr unterschiedlichen Wege
der Brüder auch in geistesgeschichtliche Entwicklungen des deutschen 20. Jahrhunderts zu suchen,
hier hilft die Dissertation Leos über den Lebensphilophen Ludwig Klages, der die deutsche Seele als
Widersacher des rationalen Geistes zur Weltanschauung machte.

Irritierend erscheint, dass die Personen aus der Elterngeneration des Autors (vermutlich Personenschutz)
nur mit Chiffren wie „W 38“ oder „M 41“ bezeichnet werden.
Vorderansicht des Hauses Weserstraße 84

Real dagegen ist die Adresse Weserstraße 84 in Vegesack, ein fast idyllisches Porträt desHohen Ufers aus dem 19. Jahrhundert mit Seeschiffen und dem ländlichen Ufer gegenüber im Oldenburgischen schmückt zweimal die Umschlagseiten, der Umschlag selbst zeigt ein Foto einer kargen Uferlandschaft.
Die schönsten literarischen Beschreibungen gelingen aus der Sicht der Kinder vom Turm dieses Hauses, sehen und schauen, konkrete Träume.
Ich, W.G., empfehle das Gedicht „Der Türmer" daneben zu legen. Hier giebt es dann auch schöne
Reflektionen über den deutschen Bildungsroman. Was bedeutet es, sich zu bilden?

Hier betrachtet der Rezensent den "Turm".

Von vielen möglichen Antworten lautet die schönste: Es bedeutet, sich selbst in der Welt zu
begegnen. (Seite 104)
Es werden auch Gedichte von David Bowie bis zu Stefan George zitiert,
sie zeigen die Spannbreite der Überlegungen des Autors. Wir finden den Analysierer Leo,
den Menschen Leo mit seinen Empfindungen, und seinem Alltag. z.B..
Werder Brem`, Werder Brem`, Werder Brem`, (Melodie: Here we go, here we go …)

Diesen Gesang hat Leo als Teil seines Bremer Lebens aufgenommen, als Gegenstück dann
Gedanken, warum er die Lieder deutscher Innerlichkeit, die in der Weserstraße gesungen
wurden, ablehnt.
Das Buch, Roman, Essay, was auch immer, hat seine Stärken in dem Versuch sehr
verschiedene Teile deutscher und persönlicher Geschichte zusammen zu bringen,
dieses deutsche Ausland sichtbarer zu machen.

Wilfried Grünhagen April 2014 = Werder ist gerettet !



4. Aufl. 2014, 350 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98017-2