DER KLEINE BRUDER

Von SVEN REGENER

Nachdem Sven Regeners Romanheld Frank der Neuen Vahr Süd entkommen ist und er gleichzeitig der Bundeswehr durch einen gewagten Trick abhanden kam, zieht es ihn nun nach Berlin, auf der Suche nach seinem großen Bruder „Manni“, der ihm immer versichert hatte, er könne jederzeit zu ihm nach Berlin kommen,“ um die ganze Scheiße hinter sich zu lassen“. So macht sich der kleine Bruder Frank mit seinem Bekannten „Wolli“ auf dem Beifahrersitz auf den Weg nach Berlin, wobei er schon während der Fahrt zu der Einsicht gelangt, dass man „kein neues Leben anfangen und einen wie Wolli dabeihaben kann“. In der ersten Nacht des Ankommens lernt Frank Manni´s WG kennen, ohne ihn jedoch dort anzutreffen. Niemand ist begeistert von seiner Ankunft, unverhohlenes Misstrauen schlägt ihm entgegen: ist er überhaupt „Freddies“ Bruder ? Und wer ist, fragt sich Frank: „Freddie“ ? Wenigstens das klärt sich nach ziemlich sinnfreiem aneinander-vorbeireden immerhin trotzdem auf: „Manni“ wird in Berlin „Freddie“ genannt.

Natürlich weiß niemand, warum. Warum auch. Überhaupt gibt es nur nebulöse Aussagen zu Manni´s Abwesenheit, was Frank´s Neugierde natürlich beflügelt. Fortan handelt die ganze Geschichte davon, wie der kleine Bruder Frank durch die Kreuzberger Szene in gelegentlich taumelnder Recherche, vorwiegend aber nüchtern umherirrt, um seinen großen Bruder Manni zu finden. Den er alsbald auch für sich selbst in „Freddie“ umbenennt, wobei es ihn irritiert, wie schnell er dazu bereit ist. Aber es soll die Suche erleichtern, die sich als unerwartet kompliziert herausstellt. Um dem Fortgang der Geschichte mehr Spannung zu verleihen, wird listig das eine oder andere „Element of Crime“ eingestreut, es wird der Boden für Vermutungen bereitet, zu denen eigentlich kein Anlass besteht. Das nennt man Fake. Ich will den Ausgang des Romans nicht verraten, aber soviel sei dann doch schon mal gesagt: es gibt praktisch nichts zu verraten.

Nach dem Überstehen der quälend langatmigen Lektüre des Vorgänger-Romans: „Neue Vahr Süd“, wähnte ich mich vor einer weiteren Enttäuschung gefeit zu sein, verhieß doch der Aufbruch nach Berlin-Kreuzberg ein Mehr an Spannung. Und die Schnitzeljagd nach „Manni “alias „Freddie“ hätte auch literarischen Slapstick-Charakter haben können. Oder die Assoziation, die immer aufkommt, wenn man lange auf etwas wartet, nämlich die „Warten auf Godot - Sinnfrage" , die hätte auch gerne aufkommen dürfen. Tat sie aber nicht. Gemäß einer bekannten Beobachtung erzeugt der Wortlaut, nicht der Inhalt, den Eindruck von Neuheit. Die Leute aber, die Punks und die Hippies, die Frank auf der Strasse oder in den Kneipen Kreuzbergs trifft, gleiten auf der banalen Oberfläche ihrer selbst oder der Welt dahin. Es fällt unentwegt auf, wie wenig sie in der Lage sind, auf ein anspruchsvolles oder gar originelles Ziel hin zu denken,  geschweige denn zu handeln. Oder ist es originell, eine Galerie „ArschArt“ zu nennen oder die Band, die im „Krahl-Eck“ auftritt „Dr.Votz“ und deren Sänger P.Immel?  Eine solche Ausdrucksweise erwartet man  nicht mal von Udo Lindenberg.

Es ist für mich erstaunlich, dass ein so guter Songwriter wie Sven Regener, in seinem Roman eine solche Langeweile verbreitet. Und eine sprachliche Tristesse, die irgendwie gar nicht zu ihm passen will, wenn man seine Lieder und Texte kennt. Und mag.
Mir gefiel ein einziger Satz aus dem kleinen Bruder: beim Eintreffen im „Krahl-Eck“, den besoffenen „Dr.Votz“-Bassisten  Martin über die Schulter gelegt, schreibt Regener: „Frank stand auf und ging zum Tresen, unter den wachsamen Augen der dort sitzenden Punks; dicht an dicht saßen sie auf ihren Hockern wie schlechtgelaunte schwarze Vögel“. Das war´s , was mir gefallen hat.
Obschon inhaltlich nicht so weit weg von Olli Dietrich´s „Ditsche“ und manchmal den lakonischen Filmen Aki Kaurismäkis, besitzt Regener den Witz des Einen nicht und den sinnlosen Humor des Anderen auch nicht. Sein Roman ist Massenware, etikettiert mit den sich endlos wiederholenden Allgemeinplätzen unserer Sprache, unserer Kultur, unserer Umgebung und unserer Zeit. Der kleine Bruder ist nicht mal richtig schlecht – aber wer möchte schon ein solches Kompliment bekommen?
Rezension, Holger Mertins